Gespräch mit einer Blumenzwiebel
Erzähler: In einem Lagerschuppen lag eine zufriedene Blumenzwiebel. Eines Tages nahm der Gärtner sie in seine Hand und sagte:
Gärtner: Es ist an der Zeit, dass du lebendig wirst. Darum werde ich dich jetzt einpflanzen.
Zwiebel: Lass mich in Ruhe! Mir geht es hier doch gut. Ich möchte nicht in die dunkle Erde gesteckt werden.
Gärtner: In dieser Umgebung kannst du nicht entdecken, was alles in dir steckt. Du musst dich verändern und in der Erde das wirkliche Leben kennen lernen.
Zwiebel: Ich möchte mich nicht verändern. Jetzt weiß ich was ich habe. Was soll denn aus mir werden?
Gärtner: Du sollst entdecken, was in dir steckt. Nur wenn du dich auf Veränderungen einlässt wirst du das blühende Leben kennen lernen.
Zwiebel: Und was geschieht, wenn ich so bleiben will, wie ich jetzt bin?
Gärtner: Dann wirst du eine vertrocknete, leblose Zwiebel und du wirst das kostbare Leben, das in dir steckt, nie kennen lernen.
Zwiebel: Aber wenn du mich eingräbst, dann sterbe ich in der dunklen Erde.
Gärtner: Was heißt schon sterben? In der Angst um dein Leben siehst du nur die eine Seite. Du stirbst nicht. Du wirst verwandelt. Je mehr du deine alte Gestalt aufgibst, desto mehr erwachst du zum neuen Leben und wirst die, die du wirklich bist.
Zwiebel: Werde die, die du wirklich bist. Was heißt das? Ich bin doch eine wirkliche Zwiebel, eine Blumenzwiebel!
Gärtner: Leben heißt: sich verändern, sich entfalten, wachsen und reifen. In dir steckt noch viel mehr, als du jetzt denkst.
Zwiebel: Warum willst du mich dafür in die dunkle Erde stecken? Kann das Licht der Sonne meine Lebenskraft nicht wecken?
Gärtner: Niemand kann nur in der Sonne leben. Die Dunkelheit ist für dein Leben wichtig. Wer sich dunkle Stunden ersparen will, nichts hergibt, auf nichts verzichten will, kommt nicht zum Leben. Wer ein gutes und erfülltes Leben finden will, der muss etwas aufgeben, loslassen und Neues wagen.
Zwiebel: Kann ich denn nur in dunklen Stunden entfalten, was in mir steckt?
Gärtner: Zu deinem Leben gehören die hellen und die dunklen Stunden, Tage und Nächte. Nur wenn du beides durchlebst, kannst du wachsen und dich entfalten.
Erzähler: Nachdem der Gärtner das gesagt hatte, grub er ein Loch und pflanzte die Zwiebel ein. Kurze Zeit sah sie noch einen Lichtpunkt über sich, dann aber wurde es ganz finster. Die lange beschwerliche Zeit des Wachsens begann. In ihrer ausweglosen Lage jammerte die Zwiebel:
Zwiebel: Jetzt ist es bald zu Ende mit mir. Es hätte so schön sein können, aber nun vergeht mein Leben in der dunklen Erde.
Erzähler: Die Zwiebel verwandelte sich. Sie wurde ganz runzelig. Aber sie bemerkte auch:
Zwiebel: Ganz tief in mir regt und bewegt sich etwas. Ich spüre neues Leben in mir. Leben, das wachsen und sich entfalten will.
Erzähler: Nach langen düsteren Tagen durchfuhr sie ein heftiger Schmerz. Es war, als ob eine Lanze ihr Herz durchbohrt hätte. Diese Wunde wurde zur Tür in ein neues Leben. Der erste Trieb hatte die Zwiebelschale und den Erdboden durchdrängt. An die Stelle tiefer Finsternis trat jetzt helles wärmendes Licht. Das neue Leben war aufregend und schön.
Zwiebel: Jetzt kann ich wachsen und mich entfalten. Jetzt verstehe ich, was der Gärtner meinte: Leben bedeutet wachsen, sich verändern, sich verwandeln.
Gärtner: Weil du deine alten Schalen durchbrochen hast, kann dein eigentliches Leben zum Vorschein kommen.
Erzähler: Unter der Zärtlichkeit und Wärme der Sonne wuchs der Trieb. Mit der Zeit bildeten sich Knospen.
Gärtner: Noch lebst du nur für dich und verwendest deine ganze Kraft auf die Entfaltung deines Wesens. Aber wenn du dich entfaltet hast, dann bringst du Farbe, Duft und Freude in das Leben anderer Wesen. Da, wo du blühst, wird es lebendiger und bunter in dieser Welt.
Zwiebel: Ich spüre Kräfte in mir, die zur Entfaltung drängen. Wenn ich meine Knospe sprenge und zu blühen beginne, dann wird deutlich, wie schön und einmalig ich bin.
Gärtner: Wenn du so weit in den Himmel hinein gewachsen bist, wie du in der tiefen Erde verwurzelt bist, dann wirst du dich ausdehnen und als Blüte zum neuen Leben erwachen. Es ist nicht leicht, die Knospe aufzubrechen, die dich beschützt. Aber wenn du zum blühenden Leben gekommen bist, dann wirst du alle Schmerzen des Wachsens vergessen.
Erzähler: Langsam und behutsam entfaltete die Blume ihre zarten, bunten Blütenblätter. Sie ließ sich vom Licht und von der Wärme durchströmen, bis in die letzten Fasern. Ein unbekanntes Glücksgefühl durchzitterte sie, und sie empfand sich zum ersten Mal ganz frei und leicht. Und sie spürte, dass Himmel und Erde, Licht und Dunkelheit als eine große Wirklichkeit zusammengehören.
Zwiebel: Himmel und Erde leben in mir. Himmel und Erde sind auf einmalige Weise in mir zur Entfaltung und zur Blüte gekommen. Es ist wunderbar, wenn sich alles entfaltet, was verborgen in uns ist. Erst dann, wenn wir so über uns selbst hinauswachsen, leben wir wirklich.